At the 29th Congress of the German Society for Educational Science (DGfE), which took place from 10 to 13 March 2024 at the Martin Luther University Halle-Wittenberg, a research and thematic forum was held on the topic “‘Besatzungskinder’ revisited. Biographical narratives in the context of (educational) historical discourses” took place
Auf dem29. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE), der vom 10. bis 13 März 2024 an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg tagte, fand ein Forschungs- und Themenforum zum Thema „‚Besatzungskinder‘ revisited. Biografische Erzählungen im Kontext (bildungs-)historischer Diskurse“ statt (https://dgfe2024.philfak3.uni-halle.de/wp-content/uploads/2024/03/Programmheft_DGfE-Kongress-2024-.pdf, S.227).
Chair: Prof. Dr. Elke Kleinau, Universität zu Köln
In Forschungen zu den so genannten ‚Besatzungskindern‘ werden neben historischem Aktenmaterial zunehmend biografische Interviews als Quelle verwendet. Ihre Auswertung ist aber oft eher dem emotionalen Erinnern und dem Einschreiben der Lebensgeschichten in public memory geschuldet, als methodologisch abgesicherter Forschung. Mitunter werden jene Deutungen reproduziert, die in Betroffenen-Netzwerken vorherrschen.
Interpretationen von Lebensgeschichten müssen nicht mit Erwartungen und Selbstdeutungen der Betroffenen übereinstimmen. Aufgabe der Wissenschaft ist es, die subjektiven Verarbeitungsformen lebensgeschichtlicher Erfahrungen zu interpretieren und zu kontextualisieren, um über den Erkenntnishorizont des Einzelnen hinaus, gesellschaftliche Zusammenhänge herauszuarbeiten.
Ziel des Forschungsforums ist es, verschiedene theoretisch-methodische Zugänge zu diskutieren und anhand von Fallbeispielen Empfehlungen für eine gute wissenschaftliche Forschung über ‚Besatzungskinder‘ zu geben.
Referentinnen:
Dr. Flavia Guerrini, Universität Innsbruck
‚Besatzungskinder‘ zwischen Adressierungen und Selbst-Positionierung: Subjektivierungstheoretische Zugänge in Forschungen zu Nachkommen alliierter Soldaten
In den vergangenen 15 bis 20 Jahren haben Kinder alliierter Soldaten medial oder in autobiografischen Publikationen von ihren Erfahrungen als ‚Besatzungskind‘ berichtet, sich mit anderen Betroffenen vernetzt und sich an wissenschaftlichen Projekten beteiligt. In diesen Schilderungen findet sich häufig eine Betonung der negativen Folgen ihrer Herkunft: z.B. Ausgrenzung, Diskriminierung und (rassistische) Abwertung und eine als schwierig erfahrene Auseinandersetzungen mit dem unbekannten Vater.
Mein Beitrag basiert auf einem laufenden Projekt, in dem die Befragten in biografisch-narrativen Interviews vor der Folie, Kind eines alliierten Soldaten zu sein, von ihren Erfahrungen erzählten. Aus subjektivierungstheoretischer Perspektive ist die Einladung zu einem Interview stets eine Aufforderung, eine bestimmte Subjektposition einzunehmen. Dies ist unumgänglicher Teil jeder Interviewerhebung, dennoch bleibt offen, was die so adressierten, handelnden und verkörperten Menschen daraus machen.
Für die Interpretation der Interviews möchte ich den möglichen Erkenntnisgewinn eines subjektivierungstheoretischen Zugangs ausloten: Welche Selbstpositionierungen finden sich in den biographischen Narrationen? Welche Umgangsformen mit der Adressierung sowie Identifikation als ‚Besatzungskind‘ lassen sich rekonstruieren? Das soll ermöglichen, unterschiedliche, nicht auf den Modus des Erleidens beschränkte Umgangsweisen zu rekonstruieren, aber auch Anregungen für die Reflexion der Forschung geben.
Dr. Rafaela Schmid und Prof. Dr. Elke Kleinau, Universität zu Köln
Der fantasierte Vater als ‚Retter‘. Psychoanalytische Perspektiven auf eine Lebensgeschichte mit ‚drei Vätern
Die Stellung des biologischen Vaters nimmt im Diskurs über sogenannte ‚Besatzungskinder‘ eine zentrale Rolle ein. Sowohl die Fachliteratur als auch die Erzählungen Betroffener problematisieren das Aufwachsen ohne den biologischen Vater, welches mit psychischer Versehrtheit verbunden wird. In diesem Narrativ sind patriarchale Strukturen und Psychologisierungen von ‚Vaterlosigkeit‘ ablesbar. Zudem wird die genetische Abstammung gegenüber sozial gelebten Beziehungen überhöht.
In dem Vortrag steht ein biografisches Interview im Mittelpunkt, welches sich diesem Narrativ nicht unterordnen lässt. Die Interviewte wuchs mit einem Stiefvater und ab dem 19. Lebensjahr in dem Glauben auf, ein ‚russisches Besatzungskind‘ zu sein. Über eine DNA-Analyse im Rentenalter erfuhr sie, dass ihr Erzeuger jedoch ein ‚griechischer Kriegsjournalist‘ war. Trotzdem identifiziert sich die Betroffene nach eigenen Aussagen mit ihrem fantasierten Vater, was Fragen zur Funktion von Vaterfiguren sowie Identitätskonstruktionen aufwirft. Diese Fragen sollen aus einer psychoanalytischen Perspektive beantwortet werden, die es zulässt, die Bedeutung eines fantasierten Vaters mit den Selbstdeutungen der Betroffenen sowie (narrative) Identitätskonzepte jenseits biologistischer Denkschemata zu diskutieren. Dabei wird in der Tradition der freudschen Psychoanalyse vorgegangen, jedoch werden auch aktuellere Ansätze miteinbezogen, die freudsche Konzepte (feministisch) über- und weiterdenken.
Diskutantin: Jun.-Prof. Dr. Lilli Riettiens, Johannes-Gutenberg-Universität Mainz